Eindrücke aus meiner Zeit
im Flüchtlingsheim

Im Februar 2016 habe ich einen Monat lang in einem Flüchtlingsheim in Dresden gearbeitet. Ich bin dort immer wieder auf Alltagsrassismus und Massenabschiebungen gestoßen, während Bauprojekte so schnell begannen wie sie wieder eingestampft worden. Nach zwei Wochen bekam ich die fristlose Kündigung. Die Regierung hatte Gelder gestrichen und massiv Personal entlassen – und das noch vor den Grenzschließungen auf der Balkanroute.




Wenn man in den Medien etwas über Flüchtlingsheime erfährt, dann geht es in den meisten Beiträgen um Brandanschläge, Vergewaltigungen oder Massenschlägereien. Ich habe nichts dergleichen erlebt, dafür aber habe ich ein systematisches Versagen der Behörden beobachten können. Wer hätte auch mit etwas anderem gerechnet? Schließlich mussten Verfahren und Arbeitsprozesse neu geschaffen, verkürzt oder überarbeitet, neue Institutionen eingerichtet, neue Gebäude ausgebaut, möbliert und angeschlossen werden. Das bedeutet Chaos auf allen Ebenen – obwohl man der Bundesregierung und den Behörden zugutehalten muss, dass die einzelnen Arbeitsprozesse schematisch eigentlich ganz gut funktionieren. Man sollte dabei aber lieber ausblenden, dass es hier um lebende Menschen geht, die traumatisiert sind und die eine neue Heimat suchen.

Schon wenige Tage nachdem ich meine Bewerbung abgeschickt hatte, wurde ich zum Bewerbungsgespräch eingeladen; zusammen mit sechs weiteren Leuten. Mir wurde gesagt, das sei nichts Ungewöhnliches, letzte Woche hatten sie eine Runde mit dreizehn Bewerbern. Sie alle wurden angenommen. Wirklich geprüft oder vorbereitet wurde niemand. Ich hatte schon fast das Gefühl, sie nehmen einfach jeden. Donnerstag war Bewerbungsgespräch, Freitag wurde auf Probe gearbeitet, Samstag kriegte man den Arbeitsvertrag zugeschickt – theoretisch.

Bei mir war es sowieso ein bisschen anders. Ich wollte gerne einen Monat später anfangen und nur für dreißig Stunden arbeiten. „Kein Problem. Absolut kein Problem. Wir haben einige, die nur halbtags arbeiten.“ – Super, dachte ich. Das ist ja lässig. Ich bekam meine Unterlagen zugeschickt, in denen keinerlei Informationen über meinen Job standen. Noch nicht einmal ein Warnhinweis, was Impfungen betraf oder Verhaltensweisen, an denen ich mich hätte orientieren können. Mir wurde auch nicht gesagt, wo meine Arbeitsstelle sein werde. Erst ein paar Tage bevor meine Arbeit begann, wurde es mir mitgeteilt und auch nur auf Nachfrage. Aber das war nicht so schlimm, weil ich mich gut informiert hatte und mir durchaus bewusst war, dass die Mitarbeiter der Hilfsorganisationen gerade wohl ein bisschen überarbeitet waren.

Mein erster Arbeitstag fing an. Ich war guter Dinge und hochmotviert. Ich bekam eine Stelle in  einer Flüchtlingsunterbringung, in die die Flüchtlinge kommen, nachdem sie die Erstaufnahme-einrichtung verlassen hatten. Daher war es wohl mit den Impfungen nun auch nicht mehr so wild. Schließlich bekamen alle Leute, die registriert wurden, eine ärztliche Erstaufnahmeuntersuchung, um sicherzustellen, dass auch keine ansteckenden Krankheiten vorhanden waren. Wie ich später erfuhr, kamen aber auch die Kranken in dieselben Einrichtungen wie die Gesunden. Recht häufig vorkommende Krankheiten sind übrigens neben Tuberkulose, Keuchhusten und Masern, auch Grippe, Cholera, Krätze, Hepatitis und multiresistente Keime. Also zum Großteil Krankheiten, die in Folge der fluchtbedingten schlechten Hygienebedingungen übertragen werden. Die meisten Krankheiten verlassen die Flüchtlingsunterkünfte allerdings nicht. Die Risiken einer Ansteckung sind sehr gering.
 
Die Einrichtung, in der ich zu arbeiten anfing, war ein ehemaliges Hotel. Hier wurden ausschließlich Familien untergebracht oder Personengruppen mit familiärem Hintergrund. Mit wechselnder Besetzung waren das in etwa 130 Menschen, für die man verantwortlich war. Mir wurde das Gebäude gezeigt. Eigentlich ganz nett und ordentlich, dachte ich. Außer dass überall das Licht flackerte und nur jede vierte Glühbirne eingeschraubt war, um Strom und Leuchtmittel zu sparen. Aber das verpasste dem Ganzen diese gemütliche Shining-Atmosphäre.
 

Die Objektleiterin zeigte mir den Dienstplan und ich staunte nicht schlecht und sagte: „Oh, mein Arbeitsvertrag läuft aber nur über dreißig Stunden.“ – „Dreißig Stunden? Das geht bei uns aber nicht. Du musst Vollzeit arbeiten, wie alle anderen auch. Wir sind total unterbesetzt und müssen alle Überstunden schieben.“ Ich sah nochmal auf meinen Dienstplan und erfuhr erstmals, was Öffentlicher Dienst bedeutet: Sechzig-Stunden-Schichten, am Wochenende grundsätzlich zwölf Stunden und neun Tage und mehr am Stück arbeiten. Ich schluckte kurz und sagte: „Okay, wir können ja sehen, was sich machen lässt.“ – „Es ist meistens auch ziemlich ruhig“, bekam ich zur Antwort. Es klingelte an der Tür. „Das ist bestimmt der Hausmeister. Lass dich von dem nicht zuquatschen. Der erzählt ziemlich viel Stuss und ist nebenbei ein Rassist vor dem Herrn.“ Die Tür öffnete sich und vor mir stand ein Ende-Fünfziger mit fettigen Haaren, aufgequollenem Gesicht und blutunterlaufenen, schleimigen Augen. Ganz offensichtlich Alkoholker. Er quatschte mich tatsächlich stundenlang mit irgendeiner rassistischen Scheiße voll, bis ich mir endlich am anderen Ende der Stadt meine Dienstkleidung abholen konnte.
 
Das Gebäude, in das ich gehe musste, war nass, kalt und düster. Risse zogen sich durch die Mauern des grauen DDR-Baus, die Treppengeländer waren verrostet, die Fliesen gesprungen. Es war schmutzig und stank nach furzigem Kantinendampf. Die zweite Etage war baufällig und deshalb abgesperrt. Überall hingen riesige Schilder, auf denen stand, dass Drogen, Alkohol und Waffen verboten seien. Die Menschen schlurften hier herum wie in einem Knast. Der Speisesaal war auch gleichzeitig der Schlafsaal und so etwas wie Privatssphäre gab es nicht. Auch das hier war eine Flüchtlingsunterkunft – und hier endete mein erster Arbeitstag. Es fing an zu regnen.
   

Das Verhängnisvollste an den Flüchtlingsunterbringungen ist eigentlich die endlose Tristesse. Auch eine gut ausgestattete Einrichtung wie die unsrige kann diesem Problem nicht entgehen. Es gibt einfach nichts zu tun. Arbeiten dürfen die Flüchtlinge nicht, weil ja ein dreimonatiges Arbeitsverbot gilt und auch das erst ab dem Zeitpunkt, von dem sie zum ersten Mal Hartz-IV beziehen und eine Wohnung zugewiesen bekommen. Und bis sie das bekommen, können schonmal ein paar Monate ins Land ziehen. Da heißt es einfach nur warten, warten, warten. Die Ämter schicken sie zwar ständig durch die ganze Stadt, aber wer schonmal diese ganzen Ämtergänge gemacht hat, weiß wie frustrierend so etwas sein kann. Und die Flüchtlinge schicken sie extrem viel herum. Das ist wohl als so eine Art Beschäftigungstherapie gedacht oder als Teil des Eingliederungsverfahrens. Jeder, der vielleicht drei, vier Wochen in Deutschland ist, hat einen Ordner prall gefüllt mit Unterlagen – und zwar einen von den dicken aus Karton. Aufenthaltsgenehmigungen, Dokumente von Sozialamt, Krankenversicherung, Jobcenter, Wohnungs-vermittlung, Sozialversicherung, Ausländerbehörde, Handyverträge, Bankkonten und und und. Man blickt bei diesen teils völlig wirren Dokumenten als Deutscher schon kaum durch, aber für jemanden, der noch nicht einmal unsere Schrift richtig lesen kann, muss es einfach die Hölle sein. Die Flüchtlinge fühlen sich meistens der Bürokratie völlig ausgeliefert. Sie müssen sich einfach darauf verlassen, was wir ihnen sagen oder wie wir ihre Formulare ausfüllen. Wenn sie dann abgeschoben werden, haben sie einen Haufen Dokumente mit denen sie nichts anfangen können. Und wehe sie kommen irgendwohin und haben etwas verschlampt. Dann gibt’s richtig Stress. Ich stellte mir dann immer vor, wie sie nach dem Dublin-III-Verfahren in den Ankunftsländern stehen mit brechend vollen Taschen überquellender Dokumente, eingekleidet in die ausrangierten Klamotten deutscher Touristen – sie kamen mit nichts und gingen mit riesigen Ordnern.  
 


Während die Erwachsenen die ganze Zeit herumgeschickt werden, spielen die Kinder meistens auf den düsteren Fluren der Unterkunft. Krippen- und Kindergärtenplätze sind ja für die Einheimischen schon schwer zu kriegen. Für Flüchtlinge dauert es dementsprechend noch länger. Wieder heißt es warten, warten, warten. Das Spielzimmer für die Kinder wird nur einmal am Tag aufgeschlossen und zwar nur für die zwei Stunden, wenn die Kinderbetreuung da ist. Teilweise kann die aber nicht kommen, weil alle ehrenamtlich dort beschäftigt sind und schon den ganzen Tag auswärts gearbeitet haben.
 
Die Kinder drehen dann natürlich irgendwann durch. Die endlos monotonen Gänge sind wie Labyrinthe, in denen unablässig das Licht flackert. Wenn irgendwo eine Tür aufgeht, strömen sie natürlich sofort rein, einfach nur weil es etwas Anderes, etwas Neues zu sehen gibt. Dann muss man sie aber ständig enttäuschen und wieder rausschicken. Schließlich muss man arbeiten und hat keine Lust, dass die Kinder alles verwüsten. Die Eltern können sich meist auch nicht um sie kümmern, sei es weil sie unterwegs sind oder weil sie mit sich selbst beschäftigt sind und einfach mal ihre Ruhe brauchen. Kinder wollen halt auch miteinander spielen. Sie haben schließlich auch kein Spielzeug und das, was gespendet wird, ist meistens Schrott. Entweder ist es kaputt, unvollständig oder die Kinder können einfach nichts damit anfangen, wie zum Beispiel langweilige Brettspiele mit deutscher Anleitung, deutsche Bücher, deutsche Filme – wo sie doch nicht mal einen DVD-Player haben. Sie wollen aber natürlich erstmal alles besitzen, weil sie lernen mussten, Dinge zu behalten, um sie ihren Familien zu bringen. Die geben es dann aber meistens wieder zurück, weil sie nichts damit anfangen können.
 
Zudem sind die Kinder meist zutiefst traumatisiert. Meistens kriegt man das nicht wirklich mit. Es ist auch schwer zu beschreiben. Doch irgendwann ist da so ein Spiel und sie steigern sich irgendwie rein und man merkt, dass da irgendetwas nicht stimmt. Dann kommt plötzlich der Trigger und die Kinder durchleben wieder diese schrecklichen Momente. Es ist, als würden sie den Traumata im Spiel Ausdruck verschaffen wollen. Dann werden sie auf einmal aggressiv, fangen an zu weinen oder kriegen einen Nervenzusammenbruch. Schreien herum, werfen Sachen auf sich oder verstecken sich, ohne dass sie Verstecken spielen. Sie können natürlich weder sagen, was los ist, noch können sie es begreifen. Sie geben sich dem unfreiwillig hin und sind gefangen in ihren Ängsten und den dunklen Fluren um sich herum.
 


Und wenn die Kinder durchdrehen, drehen auch langsam die Erwachsenen durch, deshalb brauchen sie immer etwas Distanz zueinander. Zu viel Nähe ist nicht gut. Die Stimmung kann sich sehr schnell hochschaukeln, wenn man auf so engem Raum die ganze Zeit miteinander verbringt. Die Eltern sind deshalb auch sehr dankbar, wenn man sich etwas um die Kinder kümmert. Generell sind die Flüchtlinge übrigens ausgesprochen dankbar. Für jede Kleinigkeit bedanken sie sich von ganzem Herzen und jede Hilfe ist für sie ein großes Geschenk. Wenn es irgendwelche Ungereimheiten und Beschwerden gibt, dann sind diese völlig gerechtfertigt – jedesfalls nach meiner Erfahrung.
 
Zum Beispiel wenn es ums Essen geht. Essen ist, vor allem wenn man der endlosen Tristesse und der Perspektivlosigkeit ausgeliefert ist, eines der wichtigsten und spannendsten Dinge, die einem so am Tag widerfahren. Das Essen ist aber in den meisten Flüchtlingsunterkünften absolut furchtbar. Wir wurden wie sehr viele Einrichtungen in Deutschland von dem zwiespältigen Cateringservice Sodexo beliefert, das im Jahr 2012 durch einen Lebensmittelskandal für Aufmerksamkeit sorgte. Damals waren durch mit Noroviren verunreinigte Erdbeeren geschätzte 11.000 Menschen an Brechdurchfall erkrankt. Sodexo scheint daraus aber nicht unbedingt gelernt zu haben, denn die Lebensmittelqualität ist gleichbleibend schlecht geblieben. Das Essen war auch bei uns teilweise ungenießbar: das Gemüse vergammelt, das Hähnchenfleisch mitunter noch blutig (!) und Kakerlaken habe ich auch schon aus den Brotkörben krabbeln sehen. Trotz mehrfacher Beschwerden hat sich aber nicht viel geändert, außer dass die Hygiene Stichproben genommen hat. Die werde sich drum kümmern, hieß es. Was daraus geworden ist, weiß ich nicht.
 
Es ist schon schlimm genug, dass überhaupt so etwas vorkommt. Kaum auszudenken, was passieren würde, wenn in einer solchen Einrichtung durch blutiges Geflügelfleisch plötzlich die Menschen an Salmonellen erkranken würden. Aber fast noch schlimmer finde ich es, dass die allgemein herrschende Tristesse noch durch fades, geschmackloses Essen und einen jede Woche wiederkehrenden Speiseplan unterstrichen wird, der nur an wenigen Tagen von der vorigen Woche abweicht. Wer den Film Oldboy gesehen hat, wird verstehen können, wie man damit einen Menschen foltern kann.



Wenn der Asylantrag endlich durch ist, wird der kulinarischen Folter dann aber sofort Abhilfe geleistet, denn nun ist der Zeitpunkt gekommen, an dem man vom Sozialamt endlich eigenes Geld bekommt und damit Essen kaufen kann. Kochen dürfen sie zwar nicht (die Kochplatten sind nämlich abgeklemmt, weil das Hotel gegen die Brandschutzvorschriften verstößt), aber man kann immerhin auswärts essen gehen. Die meisten wissen sowieso nicht, wofür sie ihr Geld sonst ausgeben sollen – Kleidung ist aufgrund von Sachspenden in großen Mengen verfügbar (sie wird für die Flüchtlinge nicht extra gekauft, sie müssen nehmen, was da ist), die Stadt dürfen sie nicht verlassen, Theaterstücke und Kinofilme verstehen sie oftmals nicht, Alkohol wird von den meisten nicht getrunken und zum Sparen ist das Geld eigentlich zu wenig. Einem alleinstehenden Asylbewerber stehen nämlich höchstens 145 Euro im Monat zur Verfügung, bevor er Hartz-IV bekommt und ihm eine Wohnung zugewiesen wird. Das heißt aber lange noch nicht, dass sie auch wirklich so viel Geld bekommen.
 
Ich habe zum Beispiel den 24-jährigen Demir und seine gleichaltrige Frau Dina aus Mazedonien kennengelernt. Zusammen mit ihrer einjährigen Tochter Alena (alle Namen wurden geändert) bekam die Familie insgesamt nur sieben Euro Sozialhilfe im Monat. „Das ist keine Seltenheit“, wurde mir gesagt. „Zur Zeit ist das die gängige Art der Bundesregierung die Flüchtlinge systematisch aus dem Land rauszuekeln.“ Dabei hatten Demir und Dina noch Glück. Schließlich wurden zu dieser Zeit fast 100 Prozent der Flüchtlinge aus den Balkanstaaten abgeschoben. Ausnahmen werden nur gemacht, wenn die Flüchtlinge aus den sogenannte „sicheren“ Herkunftsländern eindeutig beweisen können, dass sie in ihrem Heimatland Diskriminierung oder Verfolgung ausgesetzt waren.
 
Demir konnte das übrigens, aber den deutschen Behörden reichte das nicht aus. Er ist Roma und die mazedonische Polizei hatte ihn etwa ein Jahr zuvor wegen eines unbegründeten Verdachts festgenommen und in der Haft gefoltert. Er wurde psychisch unter Druck gestellt und so hart auf den Kopf geschlagen, dass er ein Schädel-Hirn-Trauma erlitten hatte, von dem eine Epilepsie zurückgeblieben war. Der Polizist, der ihm das angetan hatte, wurde nie zur Rechenschaft gezogen. Seine Frau und er entschlossen sich daraufhin aus Mazedonien zu fliehen.
 
Weil Demir zwar Dokumente vorzeigen konnte, die den ganzen Vorgang bewiesen, aber für deutsche Verhältnisse noch nicht ausreichten, hatte ihm die Bundesregierung kein Bleiberecht sondern nur das Duldungsrecht eingeräumt. Dieses soll die Abschiebung lediglich herauszögern. Es wird jeweils für ein bis sechs Monate erteilt, kann aber jederzeit aufgehoben werden. Die Flüchtlinge bleiben dabei in einem ständigen Schwebezustand, in dem sie nur in Ausnahmefällen arbeiten dürfen. Zudem haben sie kein Anrecht auf Sprachkurse und somit so gut wie keine Möglichkeit zur Integration. Ein Recht auf Sprachkurse haben in der Praxis nämlich nur Flüchtlinge aus Syrien, dem Irak, dem Iran und Eritrea. Die Dauer des Duldungszustandes kann beliebig oft verlängert werden und sich so über mehrere Jahre, ja Jahrzehnte hinziehen. Während dieser Zeit wird eine medizinische Versorgung nur in Ausnahmefällen gewährleistet. Chronische Krankheiten werden grundsätzlich nicht behandelt, es sei denn sie führen zu einer rapiden Verschlechterung des gesundheitlichen Zustandes. Seltsamerweise entscheidet aber das Sozialamt, nicht aber ein Arzt darüber, ob sich der Zustand verschlechtern könnte.
 
Was das in der Praxis bedeutet, konnte ich selbst beobachten. Demir wurden keine Medikamente gegen seine Epilepsie verschrieben, obwohl er regelmäßig Anfälle bekam, die unter Umständen auch tödlich hätten enden können. Auch als seine Tochter Alena krank wurde, ist er von den zuständigen Ärzten einfach weggeschickt worden, ohne dass jemand auch nur ein Blick auf das Kind geworfen hatte. Der Zustand verschlechterte sich innerhalb einer Woche so stark, dass er mich eines Nachts bat, Alena einen Krankenwagen zu rufen. Das Kind hatte schweres Fieber und starken Husten mit Auswurf. Der Notdienst aber wies auch mich mit der Begründung ab, die Eltern könnten doch selbst ins Krankenhaus fahren. Dass die beiden kein Geld für die öffentlichen Verkehrsmittel hatten, interessierte dabei niemanden. Selbst der Bereitschaftsarzt wollte nicht kommen. Ich habe dann den beiden Eltern das Geld für die Tram gegeben und sie nachts um eins quer durch die Stadt schicken müssen, wo sich dann endlich ein Arzt um das kranke Kind kümmerte.
 


Die Abwehrhaltung der Öffentlichen ist ebenfalls keine Seltenheit, wie ich noch in derselben Nacht erfahren sollte. Auch Kalil aus Syrien kam zu mir und bat mich einen Krankenwagen für seinen Freund Rasin zu rufen (Namen ebenfalls geändert). Auch hier sagte mir der Rettungsdienst, dass die beiden ins Krankenhaus laufen sollten. Rasin aber hatte starke Schmerzen im Unterleib. Er konnte sich weder bewegen, noch bekam er Luft. Zudem hatte er starkes Herzstechen. Sein Gesicht war blass und vom Schmerz verzerrt.
 
Die Sanitäter kamen nach einer Viertelstunde gemächlich angeschlendert, obwohl das Krankenhaus nur zwei Straßen weiter war. Kalil ließ mich holen. Ich sollte ihm ins Englische übersetzten, was die Sanitäter ihn fragten. Er übersetzte es dann seinem Freund ins Arabische. Die Sanitäter sahen ihn sich an, dann gaben sie ihm eine Plastiktüte, mit der er hyperventilieren sollte. Ich fragte sie, was er habe und was sie jetzt machen wollen – „Wir warten bis sich die Atmung gebessert hat“, sagte einer der Sanis. „Dann gehen wir wieder.“ Ich dachte erst, das sei ein schlechter Scherz. Ich sollte es Kalil ins Englische übersetzen, aber ich wollte nicht – ich konnte nicht – deshalb antwortete ich den Sanis: „Ist das eurer Ernst? Ich meine, ihr wisst doch noch gar nicht, was er hat.“ – „Wir lassen ihn hyperventilieren … “ – „Ja, und?“ – „Dann gehen wir wieder.“ Kalil wurde langsam nervös. Er hatte Angst, dass sein Freund stirbt. Und ich auch. Die Stimmung wurde gereizter. Ich stritt mich mit den Sanitätern rum und musste Kalil dabei immer übersetzen. Er übersetzte Rasin. Dann wurde er langsam immer wütender und erzählte mir, dass die Sanitäter Rasin haben auf den Boden fallen lassen, als ich noch nicht im Raum war. Sie redeten sich raus, dass er ihnen „weggerutscht“ sei. Zwei erwachsenen und erfahrenen Sanitätern? Ich hatte nur Kopfschütteln für sie übrig. Und wie kam es, dass der eine Sanitäter plötzlich so gut englisch verstand? – Ein bisschen eingeschüchtert fingen sie nun endlich an, ein paar Fragen zu stellen und es kam heraus, dass der 18-jährige Rasin bereits seit sechs Jahren an Nierensteinen litt. Er stand kurz vor dem Nierenversagen und musste unbedingt ins Krankenhaus. Die Sanitäter wollten aber nichts unternehmen, bevor nicht der Versicherungsstatus geklärt war. Wir kramten also den großen Ordner mit den Unterlagen durch und fanden das richtige Dokument. „Krankenversicherungsschutz greift aber erst ab morgen“, sagte der eine.  „Das ist doch völlig egal“, sagte ich. „Die haben das Recht auf medizinische Versorgung, so wie jeder andere auch. Ich weiß gar nicht, wo das Problem liegt. Das übernimmt dann halt das Sozialamt.“ Ich kam aus dem Kopfschütteln einfach nicht mehr raus. Diese ganze Situation war so absolut irreal. Sie hätte aus einem Roman von Kafka stammen können. Was ist nur mit den Leuten los, dachte ich. Ich meine, das war der verdammte Rettungsdienst! Die machen den Job, weil sie Leben retten wollen. Und dann soll man sich mit ihnen rumstreiten, dass sie jemanden mit ins Krankenhaus nehmen?
 
Nachdem sie ihn schließlich ins Krankenhaus gefahren hatten, las ich mir das ganze Handbuch für Betreuungskräfte durch, das man uns nun endlich zur Verfügung gestellt hatte. Es war übrigens schon mein letzter Tag, also genau richtig, um sich in dieser aufregenden Nacht noch mit ein paar Horrorstorys zu beruhigen. In dem Handbuch wurde genau das beschrieben, was ich gerade erlebt hatte. Wir wurden darauf hingewiesen bei Behördengängen und der Inanspruchnahme von medizinischen Dienstleistungen äußerst beharrlich zu bleiben. In der Vergangenheit kam es dabei in der kompletten Bundesrepublik zu zahlreichen Vorfällen der Verschleppung und Verweigerung notwendiger Behandlungen, zu Nicht-Behandlungen chronischer und akuter Krankheiten, zur Verweigerung von Hilfsmitteln wie Rollstühlen und Gehhilfen. In mehreren Bundesländern, vor allem aber in Thüringen, wurden Zähne (auch bei Flüchtlingskindern) nur provisorisch gefüllt, bei Schmerzen wurden die Zähne oftmals auch einfach gezogen. Rettungwagen kommen nur, wenn man auf der Dringlichkeit des Einsatzes beharrt. In Gera etwa gab es den Fall, dass ein Flüchtling, der an einer starken Hüftgelenksnekrose litt, nicht operiert wurde, sondern einfach mit Opiaten behandelt wurde. Zudem wurde über Monate hinweg eine Lebertransplantation verweigert, was zum Tod eines Flüchtlings führte oder es wurden regelmäßige Dialysen angeordnet, obwohl eine Nierentransplantation hätte durchgeführt werden müssen. Und das nur weil die Ämter sich nicht dazu bereit erklärt hatten, die Operationskosten zu übernehmen. Stattdessen versuchen sie zur Zeit so viele Abschiebungen wie möglich durchzusetzen, ohne gegen das Gesetz zu verstoßen oder die Zahl der Flüchtlinge auch anderweitig gering zu halten. Etwa durch die Erklärung Afghanistans zu einem sicheren Herkunftsland oder die Entscheidung den Familiennachzug auf zwei Jahre festzusetzen. In der Rechnung der Bundesregierung mag das keine große Zahl sein, doch für ein Kind sind zwei Jahre, die es von seinen Eltern getrennt ist, eine Ewigkeit.

Auch ich habe die massive Abschiebungswelle miterleben können. Es verging keine Woche, in der nicht wenigstens eine Familie abgeschoben wurde. Den Beteiligten wird in diesem Fall das genaue Datum ihrer Abschiebung nicht mitgeteilt, damit sie nicht vorher verschwinden. Wir kriegen dann einen Anruf: „Ist die Familie Soundso noch in Ihrer Einrichtung …? Können Sie mir die Zimmernummer mitteilen und den Zimmerschlüssel bereithalten …? Den genauen Termin können wir Ihnen nicht sagen, aber wir versuchen nicht in der Nacht vorbeizukommen?“ – „Oh, ich dachte,  es wäre illegal Abschiebungen bei Nacht durchzuführen?“ – „Oh, äh, wirklich? Deswegen versuchen wir auch nicht bei Nacht vorbeizukommen.“ Wie sich herausstellte, ist es wirklich nicht illegal die Familien bei Nacht abzuschieben, aber die Tatsache, dass der Beamte es nicht wusste, ist schon bezeichnend. Denn die Mitarbeiter auf den Behörden sind nicht genug geschult worden. Sie haben oftmals keine Ahnung, wie im Einzelfall vorzugehen ist, ohne gegen das Gesetz zu verstoßen. Man muss sich drauf verlassen, was einem jemand am Telefon erzählt.
 
Den Polizeibeamten reicht es ja meistens auch aus, wenn sie wissen, was bei einer Abschiebung zu tun ist: Sie klopfen lautstark an eine Tür, so dass es auch jeder hört. Die Flüchtlinge müssen dann schnell ihre Sachen packen, werden dann zum Flughafen gefahren und in ein Flugzeug nach Albanien oder sonst wohin gesteckt. Dort stehen sie dann mit ihren Ordnern und der Enttäuschung in den Gesichtern, mit ihrer verschwendeten Zeit und der Perspektivlosigkeit. Das „Problem“ gilt dann aus deutscher Sicht als vorerst geklärt. Damit das auch so bleibt – und um noch etwas Geld rauszuschlagen – kommt es auch immer wieder vor, dass Asylbewerber für ihre Abschiebungen selbst bezahlen mussten. Oft wird das gemacht, wenn die Betroffenen erneut einreisen wollen. Da kommt dann die große Rechnung, denn die Bundesrepublik vergisst so etwas nicht. Sie vergisst nicht, dass sie jemandem „geholfen“ hat. Sie vergisst nicht die Kosten, die sie dafür aufgebracht hat. Sie vergisst vielleicht die Menschen hinter ihrer Rechnung, die Zahlen aber vergisst sie nie.